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Pflichtteilsanspruch: Verstoß gegen den deutschen ordre public bei Rechtswahl des englischen Erbrechts

|   Erbrecht

(BGH, Urteil v. 29.06.2022 – AZ: IV ZR 110/21-)

Leitsatz

Die Anwendung des gemäß Art. 22 Abs. 1 EuErbVO gewählten englischen Erbrechts verstößt jedenfalls dann gegen den deutschen ordre public i. S. v. Art. 35 EuErbVO, wenn sie dazu führt, dass bei einem Sachverhalt mit hinreichend starken Inlandsbezug kein bedarfsunabhängiger Pflichtteilsanspruch eines Kindes besteht.

Sachverhalt

Der Kläger verlangt von der Beklagten als alleiniger testamentarischer Erbin Auskunft über den Bestand und den Wert des Nachlasses des am 26.04.2018 verstorbenen Erblassers John Keith L. Er macht damit Pflichtteilsansprüche nach dem Erblasser geltend.

Der 1936 geborene Erblasser war britischer Staatsangehöriger. Er lebte seit seinem 29. Lebensjahr in Deutschland, wo er auch seinen letzten Wohnsitz hatte. Mit notariell beurkundetem Kindesannahmevertrag vom 30.10.1975 adoptierte der Erblasser den am 09.09.1974 geborenen Kläger. Der Vertrag enthält u. a. folgende Regelung:

"Die Erb- und Pflichtteilsrechte für das Kind und dessen künftige Abkömmlinge nach dem Erstversterbenden der annehmenden Eheleute werden ausgeschlossen."

Mit notariellem Testament vom März 2015 setzte der Erblasser die Beklagte als Alleinerbin ein. Für die Rechtsnachfolge von Todes wegen wählte er das englische Recht als Teilrecht seines Heimatstaates. Das englische Recht kennt kein Pflichtteilsrecht wie das deutsche Recht. Der Nachlass besteht aus einer im Inland belegenen Immobilie sowie diversen weiteren Gegenständen. Der Kläger ist deutscher Staatsangehöriger und hat seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Oberlandesgericht die Beklagte verurteilt, dem Kläger die geforderte Auskunft über den Bestand des Nachlasses durch Vorlage eines notariellen Nachlassverzeichnisses zu erteilen und die Werte verschiedener Nachlassgegenstände durch Sachverständigengutachten bestimmen zu lassen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihren Antrag auf vollständige Klageabweisung weiter.

Entscheidungsgründe des BGH

Die Revision hat keinen Erfolg.

Dem Kläger steht gem. § 2314 Abs. 1 BGB ein Anspruch auf Auskunft über den Bestand des Nachlasses des Erblassers und auf Wertermittlung in dem vom Berufungsgericht entschiedenen Umfang zu. Dem steht nicht entgegen, dass der Erblasser für seine Rechtsnachfolge von Todes wegen in seinem Testament das englische Recht gewählt hat.

Allerdings stand es dem Erblasser frei, für seine Rechtsnachfolge von Todes wegen mit dem englischen Recht das Recht des Staates zu wählen, dem er im Zeitpunkt der Rechtswahl angehört. Entgegen der Ansicht der Revision ist jedoch die Anwendung englischen Rechts jedenfalls im hier zur Entscheidung stehenden Fall mit dem deutschen ordre public offensichtlich unvereinbar (Art. 35 EuErbVO). Denn das englische Recht steht zu der nach deutschem Recht verfassungsrechtlich verbürgten Nachlassverteilung in einem so schwerwiegenden Widerspruch, dass dessen Anwendung im hiesigen Fall untragbar ist. Daher findet es hier keine Anwendung.

Art. 35 EuErbVO sieht vor, dass die Anwendung einer Vorschrift eines Staates nur versagt werden darf, wenn ihre Anwendung mit der öffentlichen Ordnung (ordre public) des Staates des angerufenen Gerichts offensichtlich unvereinbar ist. Ein Verstoß gegen den ordre public liegt nur dann vor, wenn das Ergebnis der Anwendung des ausländischen Rechts im konkreten Einzelfall zu den Grundgedanken der nationalen Regelungen und den in ihnen enthaltenen Gerechtigkeitsvorstellungen in so starkem Widerspruch steht, dass es nach inländischer Vorstellung schlichtweg untragbar erscheint.

Das Pflichtteilsrecht ist als Institutionsgarantie dem Bestand des deutschen ordre public zuzurechnen. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Grundsatzentscheidung vom 19.04.2005 klargestellt, dass dem Pflichtteilsrecht der Kinder des Erblassers unter Verweis auf die Erbrechtsgarantie des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 GG Grundrechtscharakter im Sinne einer grundsätzlich unentziehbaren bedarfsunabhängigen wirtschaftlichen Mindestbeteiligung der Kinder des Erblassers an dessen Nachlass zukommt.

Das englische Recht kennt demgegenüber keinen bedarfsunabhängigen und nach festen Quoten berechneten Anspruch eines Abkömmlings nach dem Tod des Erblassers. Ein Pflichtteilsrecht, wie es der deutschen Rechtsordnung entspricht, ist dem englischen Recht fremd.

Mittelbare Beschränkungen der Dispositionsbefugnis des Erblassers enthält lediglich der Inheritance Act 1975. Kindern des Erblassers kann danach auf Antrag ein Unterhaltsanspruch gegen den Nachlass zustehen, wenn es der Verstorbene unterlassen hat, angemessene finanzielle Verfügungen zu treffen. Die Ermessensentscheidung im Einzelfall obliegt den englischen Gerichten, wenn – anders als hier – der Erblasser im Zeitpunkt seines Todes sein Domizil in England oder Wales hatte. Nach englischem Recht bleibt der Kläger am Nachlass des Erblassers bereits aus diesem Grund unbeteiligt.

Die Nichtanwendung des an sich berufenen ausländischen Rechts infolge offensichtlicher Unvereinbarkeit mit der öffentlichen Ordnung des Staates des angerufenen Gerichts setzt voraus, dass der zu beurteilende Sachverhalt eine hinreichend starke Inlandsbeziehung aufweist. Diese hat das Berufungsgericht hier rechtsfehlerfrei angenommen. Die zu schützenden Familienbeziehungen des Erblassers hatten ihren Mittelpunkt in Deutschland. Sowohl der Kläger als auch der Erblasser haben bzw. hatten ihren gewöhnlichen Aufenthalt zum Zeitpunkt des Erbfalls in Deutschland, der Erblasser bereits seit mehr als 50 Jahren. Dort befindet sich auch das Vermögen des Erblassers. Der Kläger besitzt zudem die deutsche Staatsangehörigkeit.

Der Verstoß gegen den ordre public hat zur Folge, dass die ausländische Rechtsnorm im konkreten Fall keine Anwendung findet. Dementsprechend bedarf es hier des Rückgriffs auf das deutsche Pflichtteilsrecht, auf dessen Grundlage die mit der Klage geltend gemachten Ansprüche begründet sind.

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