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Anfechtung der Annahme der Erbschaft wegen Irrtums

|   Erbrecht

(BGH, Urteil vom 29.06.2016 – AZ: IV ZR 387/15 –, NJW 2016, 2954-2957 = FamRZ 2016, 1450-1453)

Leitsatz

Auch nach der Neufassung des § 2306 Abs. 1 BGB mit Wirkung zum 1. Januar 2010 kann ein zur Anfechtung der Annahme einer Erbschaft berechtigender Irrtum vorliegen, wenn der mit Beschwerungen als Erbe eingesetzte Pflichtteilsberechtigte irrig davon ausgeht, er dürfe die Erbschaft nicht ausschlagen, um seinen Anspruch auf den Pflichtteil nicht zu verlieren.

Sachverhalt

Die verwitwete Erblasserin hatte vier Kinder, darunter die Beklagte; zwei Kinder waren vorverstorben. Der Kläger ist ein Enkel der Erblasserin. Diese hinterließ drei Testamente. In dem hier maßgeblichen Testament vom 18.04.2007 setzte sie die Beklagte zur Miterbin zu 1/4 ein und ordnete zugunsten des Klägers sowie seiner zwei Geschwister ein Vorausvermächtnis hinsichtlich eines Hausgrundstücks an, welches sie in einem Testament aus dem Jahre 2008 wiederum mit einem Untervermächtnis belastete. Der Kläger wurde zum Testamentsvollstrecker bestimmt.

Kenntnis von den letztwilligen Verfügungen erhielt die Beklagte im März 2012. Mit Schreiben vom 12.06.2012 erklärte sie die Anfechtung der Versäumung der Ausschlagungsfrist und gleichzeitig die Erbausschlagung. In dem Schreiben hieß es u. a.:

"Ich wollte die Erbschaft in Wirklichkeit nicht annehmen, sondern habe die Frist zur Ausschlagung versäumt, weil ich in dem Glauben war, dass ich im Falle einer Ausschlagung vollumfänglich vom Nachlass ausgeschlossen wäre, und zwar auch bezüglich von Pflichtteilsansprüchen und des zu meinen Gunsten eingeräumten Untervermächtnisses. Ich habe mich also über den rechtlichen Regelungsgehalt des § 2306 BGB geirrt, der zu einem Irrtum über die Rechtsfolgen der Nichtausschlagung führte."

Die anschließende Aufforderung der Beklagten, zwecks Berechnung ihres Anspruchs auf Pflichtteil und Pflichtteilsergänzung Auskunft über den Bestand des Nachlasses zu erteilen, lehnte der Kläger ab. Mit seiner gegen die Beklagte gerichteten Klage beantragte er,  festzustellen, dass er in seiner Eigenschaft als Testamentsvollstrecker die Beklagte als Miterbin zu 1/4 anzusehen und im Rahmen des Teilungsplanes entsprechend zu berücksichtigen habe.

Die Beklagte erhob Widerklage mit dem Antrag, den Kläger zu verurteilen, die Zwangsvollstreckung wegen der Pflichtteils- und Pflichtteilsergänzungsansprüche gemäß der zugleich von ihr erhobenen Drittwiderklage gegen die Drittwiderbeklagten zu 2) bis 12) in den Nachlass zu dulden. Mit der Drittwiderklage begehrt die Beklagte von den Erben sowie den Beschenkten der Erblasserin in der ersten Stufe Auskunft über den Nachlass und Wertermittlung verschiedener Nachlassgegenstände.

Das Landgericht hat der Klage stattgegeben und die Widerklage sowie die Drittwiderklage abgewiesen. Das Oberlandesgericht Stuttgart hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Die Revision der Beklagten führte zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.

Entscheidungsgründe des BGH

Das Berufungsgericht, das von einem nicht schützenswerten Rechtsfolgenirrtum der Beklagten ausgegangen ist, verneint zu Unrecht das Vorliegen eines rechtlich erheblichen Irrtums.

Der Anfechtungsgrund ergibt sich hier aus § 119 Abs. 1 BGB. Ein Inhaltsirrtum im Sinne dieser Vorschrift kann auch darin gesehen werden, dass der Erklärende über Rechtsfolgen seiner Willenserklärung irrt, weil das Rechtsgeschäft nicht nur die von ihm erstrebten Rechtswirkungen erzeugt, sondern auch solche, die sich davon unterscheiden.

Nach den revisionsrechtlich bindenden Feststellungen des Berufungsgerichts lag der Irrtum der Beklagten darin, dass sie fälschlich davon ausging, im Falle einer Ausschlagung der Erbschaft keine Teilhabe am Nachlass, insbesondere keinen Pflichtteilsanspruch zu haben. Auf dieser Grundlage liegt ein beachtlicher Inhaltsirrtum gemäß § 119 Abs. 1 Alt. 1 BGB i.V.m. § 2306 Abs. 1 BGB vor.

Der Senat hat zu der vor dem Jahre 2010 geltenden Fassung des § 2306 Abs. 1 BGB entschieden, die irrige Vorstellung des unter Beschwerungen als Erbe eingesetzten Pflichtteilsberechtigten, er dürfe die Erbschaft nicht ausschlagen, um seinen Anspruch auf den Pflichtteil nicht zu verlieren, rechtfertige die Anfechtung einer auf dieser Vorstellung beruhenden Annahme der Erbschaft (BGH, Beschluss vom 05.07.2006 – IV ZB 39/05, BGHZ 168, 219 Rn. 22).

Auch nach der Neuregelung des § 2306 Abs. 1 BGB können sich zur Anfechtung wegen Inhaltsirrtums berechtigende Sachverhaltskonstellationen ergeben, auf die die Grundsätze des Senatsbeschlusses vom 05.07.2006 entsprechende Anwendung finden. Der mit Beschränkungen und Beschwerungen belastete Erbe – wie hier die Beklagte – wird im Regelfall nicht wissen, dass er die Erbschaft ausschlagen muss, um seinen Pflichtteilsanspruch nicht zu verlieren. Zu einem Irrtum über die Folgen der bewussten oder unbewussten Annahme der Erbschaft kann es nach neuem Recht umso mehr kommen, als der Erbe nunmehr unabhängig von der Größe des hinterlassenen Erbteils die Erbschaft immer ausschlagen muss, um den Pflichtteil verlangen zu können. Jedenfalls ist die Gefahr eines derartigen Irrtums durch die Neuregelung nicht verringert worden. Inhaltliche Unterschiede haben sich für die Beklagte durch die Gesetzesänderung nicht ergeben. Maßgebend ist wie bisher, dass die Beklagte durch die bewusste oder unbewusste Annahme der Erbschaft das ihr eröffnete Wahlrecht verliert und den möglicherweise günstigeren Pflichtteilsanspruch nicht mehr geltend machen kann.

Daher trifft die von einem Teil des Schrifttums vertretene Auffassung zu, dass sich durch die Neufassung des § 2306 Abs. 1 BGB inhaltlich keine Änderung zur bisherigen Rechtslage ergeben hat und der Erbe weiterhin dem beachtlichen Irrtum unterliegen kann, er dürfe die Erbschaft nicht ausschlagen, um seinen Anspruch auf den Pflichtteil nicht zu verlieren.  

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