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Selbständiges Beweisverfahren: Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Ermittlung des Verkehrswertes einer Nachlassimmobilie

|   Erbrecht

(OLG Hamm, Beschluss vom 03.01.2023 – AZ. 10 W 71/22-)

Leitsatz

Ein Pflichtteilsberechtigter kann im Wege des selbstständigen Beweisverfahrens gemäß § 485 ZPO die Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Ermittlung des Verkehrswertes einer im Nachlass vorhandenen Immobilie verlangen. Er ist nicht auf die Erhebung einer Auskunfts- und Wertermittlungsklage gemäß § 2314 BGB zu verweisen.

Sachverhalt

Die Parteien sind die Kinder der im Juli 2019 verstorbenen Erblasserin. Der Vater der Parteien und Ehemann der Erblasserin ist bereits vorverstorben. Durch letztwillige Verfügungen setzten die Eltern die Antragsgegnerin zur Nacherbin und Schlusserbin ein.

Der hierdurch enterbte Antragsteller macht Pflichtteilsansprüche nach der Erblasserin gegen die Antragsgegnerin geltend.

Zum Nachlass gehört ein Mehrfamilienhaus einschließlich Garage, dessen Wert bisher nicht durch Einholung eines Sachverständigengutachtens ermittelt worden ist. Die Antragsgegnerin hat diese Immobilie im Juni 2020 an die Stadt zum Preis von 150.000,00 € verkauft.

Der Antragsteller hat beim Amtsgericht beantragt, im selbstständigen Beweisverfahren ein Sachverständigengutachten zur Ermittlung des Verkehrswertes der Immobilie einzuholen. Zur Begründung hat er ausgeführt, ein selbstständiges Beweisverfahren sei notwendig, weil die Antragsgegnerin das Haus zwischenzeitlich verkauft habe, ohne ein Sachverständigengutachten zur Wertermittlung eingeholt zu haben. Es sei damit zu rechnen, dass das Haus von dem neuen Eigentümer kurzfristig abgerissen werde. Nach eigener Wertermittlung durch den Antragsteller habe die Immobilie einen Wert von 230.000,00 €.

Die Antragsgegnerin hat die Zurückweisung des Antrags als unzulässig beantragt und dazu vorgetragen, die Einholung eines Gutachtens zur Bewertung der Immobilie könne nicht verlangt werden, weil sich ein Pflichtteilsanspruch für den Fall eines zeitnahen Verkauf nach dem Tode des Erblassers nicht nach dem Verkehrswert, sondern nach dem tatsächlich erzielten Kaufpreis berechne. Wenn gleichwohl ein Wertgutachten verlangt werde, müsse dies im Klageverfahren gemäß § 2314 BGB geltend gemacht werden.

Das Landgericht hat den Antrag als unzulässig zurückgewiesen mit der Begründung, es fehle an dem erforderlichen rechtlichen Interesse des Antragstellers im Sinne von § 485 Abs. 2 ZPO. Für die Berechnung des dem Antragsteller zustehenden Pflichtteilsanspruchs komme es auf eine gutachterliche Schätzung nicht an, weil sich sein Anspruch für den Fall eines zeitnahen Verkaufs nicht nach dem Verkehrswert, sondern nach dem tatsächlich erzielten Kaufpreis richte. Im Übrigen habe die Antragsgegnerin die Behauptung bestritten, die Stadt plane den Abriss der Immobilie. Diese Behauptung habe der Antragsteller nicht glaubhaft gemacht.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die sofortige Beschwerde des Antragstellers. Ergänzend trägt er vor, es gebe konkrete Anhaltspunkte dafür, dass der von der Antragsgegnerin erzielte Verkaufserlös nicht dem tatsächlichen Verkehrswert der Immobilie entsprochen habe (wird näher ausgeführt). 

Entscheidungsgründe des OLG Hamm

Die Beschwerde ist zulässig und hat auch in der Sache Erfolg.

Die beantragte Beweisanordnung ist nach § 485 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO zu erlassen. Entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin ist der Antragsteller nicht auf die Erhebung einer Auskunfts- und Wertermittlungsklage gemäß § 2314 BGB zu verweisen (OLG Hamm, Beschluss vom 25.10.1999 – 5 WF 354/99; OLG Koblenz, Beschluss vom 17.10.2008 – 7 WF 867/08; OLG Köln, Beschluss vom 25.02.2010 – 10 WF 216/09).

Für die Zulässigkeit des Antrags ist es unerheblich, ob ein Abriss des Gebäudes in naher Zukunft zu erwarten ist. Selbst wenn nicht zu besorgen wäre, dass das Beweismittel verloren geht, ist der Antrag zwar nicht nach Abs. 1 des § 485 ZPO zulässig, sondern nach dessen Abs. 2 Nr. 1. Nach dieser Vorschrift kann eine Partei, wenn – wie hier – ein Rechtsstreit noch nicht bei Gericht anhängig ist, die schriftliche Begutachtung durch einen Sachverständigen beantragen, wenn sie ein rechtliches Interesse daran hat, dass der Wert einer Sache festgestellt wird. Ein rechtliches Interesse ist insbesondere dann anzunehmen, wenn die Feststellung der Vermeidung eines Rechtsstreits dienen kann, § 485 Abs. 2 Satz 2 ZPO. Das ist hier der Fall.

Der Begriff des rechtlichen Interesses ist weit zu fassen, da § 485 Abs. 2 ZPO eine von einem Beweissicherungsbedürfnis, wie es Abs. 1 der Vorschrift voraussetzt, unabhängige Erhebung des Sachverständigenbeweises ermöglicht.

Allenfalls in einem völlig eindeutigen Fall, bei dem das Fehlen des behaupteten Anspruchs evident ist, kann die Durchführung des selbstständigen Beweisverfahrens unzulässig sein (BGH vom 16.09.2004 – III ZB 33/04, NJW 2004, 3488). Ein solcher Fall liegt hier jedoch keineswegs vor, denn die Durchführung der Wertermittlung durch ein gerichtliches Sachverständigengutachten kann nicht unter Hinweis auf den von der Antragsgegnerin abgeschlossenen Kaufvertrag und den darin vereinbarten Kaufpreis abgelehnt werden. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs besteht nämlich der Anspruch auf Wertermittlung durch Einholung eines Sachverständigengutachtens auch dann, wenn der Nachlassgegenstand veräußert worden ist und deshalb in Gestalt des Verkaufspreises ein Anhaltspunkt für den Verkehrswert vorliegt (BGH, Urteil vom 29.09.2021 – IV ZR 328/20). Dies rechtfertigt sich – so der BGH – daraus, dass dem Pflichtteilsberechtigten andernfalls der Nachweis verwehrt bzw. zumindest erschwert würde, dass der Veräußerungserlös nicht dem tatsächlichen Verkehrswert entspricht. Dass Letzteres hier der Fall sein könnte, hat der Antragsteller plausibel dargelegt.

Das rechtliche Interesse des Antragstellers ist auch deshalb zu bejahen, weil die Feststellung des Verkehrswertes der Immobilie durch ein gerichtlich eingeholtes Sachverständigengutachten der Vermeidung eines Rechtsstreites dienen kann, § 485 Abs. 2 Satz 2 ZPO. Ausreichend ist insoweit eine Schlichtungsmöglichkeit im weitesten Sinne. Es reicht daher zur Annahme eines rechtlichen Interesses aus, dass ein Sachverständigengutachten objektiv geeignet erscheint, eine einverständliche Streitbereinigung herbeizuführen. Im vorliegenden Fall erscheint es durchaus möglich, dass der Antragsteller von der Einleitung eines streitigen Verfahrens absehen wird, wenn das Gutachten den Sachvortrag der Antragsgegnerin bestätigen sollte. Denkbar ist auch, dass die Parteien auf der Grundlage der durch das Gutachten festgestellten Werte eine abschließende außergerichtliche Einigung finden. 

Aus diesen Gründen ist der angefochtene Beschluss aufzuheben und die Sache zur erneuten Entscheidung über den Antrag, im selbstständigen Beweisverfahren ein Sachverständigengutachten einzuholen, an das Landgericht zurückzuverweisen.

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